Göppingen, 17. Mai, Schulzentrum an der Öde: DRK-Rettungswagen rasen dutzendweise die Christian-Grüninger-Straße hinauf, die Feuerwehr auch. Was ist passiert? Edgar Wolff hat angerufen. Nicht als Landrat, als „Lehrer“. So wollte es das Drehbuch für die „MANV-Übung“, die das DRK und alle anderen Rettungsorganisationen im Landkreis und das Alb-Fils-Klinikum den ganzen Tag auf Trab hielt. „MANV“, das heißt im Amtsdeutsch „Massenanfall von Verletzten“, und der Umgang mit so einem Szenario will gelernt sein. „GoepEx2025“ hieß die Übung und für den Anfang stand im Drehbuch, das ein „Lehrer“ des Schulzentrums aufgeregt den Notruf wählt und kurz erklärt, was passiert ist: Beim Aufbau eines Licht- und Tongerüsts in der Turnhalle ist das Gerüst eingestürzt, es gibt viele Verletzte, „ich schätze so 50“, sagt Wolff, „davon vielleicht 10 Schwerverletzte“, sagt er auf Nachfrage aus der Leitstelle. Wenn die solche Zahlen hört, gibt es einiges zu tun. Und einen Plan, den „Alarm- und Einsatzplan zur Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten und Erkrankten im Landkreis Göppingen“. Die aktuelle Version wurde im Mai geübt. Und wie: die Leitstelle alarmiert praktisch alle Einheiten des Katastrophenschutzes im Landkreis: Deutsches Rotes Kreuz, Malteser-Hilfsdienst, Johanniter-Unfallhilfe, das technische Hilfswerk und natürlich die Feuerwehr. Die ersten Helfer*innen sind mit dem DRK-Notarzteinsatzfahrzeug ein paar Minuten nach dem Anruf von „Lehrer“ Wolff vor Ort.
Was sie vor Ort erwartet, nimmt alle mit, auch die, die nur zugucken. Schon vor dem Eingang zur Turnhalle sitzt ein Verletzter und keucht apathisch. Im Foyer liegen mehrere Verletzte, im Flur dahinter auch, viele jammern und schreien, manche geben keinen Ton von sich. Sie haben es nach einer Massenpanik in der Turnhalle irgendwie noch aus der Halle geschafft, sind aber zum Teil übel zugerichtet. In der Halle dann ein Bild des Grauens: Unter und vor den Gerüsttrümmern überall Verletzte, eine Frau mit großer Scherbe im Hals, ein Mann mit einem Stahlrohr im Oberschenkel, ein anderer hat ein Stück Stahl im Bauch. Überall Erbrochenes, verzweifelte Schreie nach Hilfe. Das Schminkteam und die Schauspieltruppe legen filmreife Arbeit aufs Turnhallenparkett. Der Notarzt und die ersten eingetroffenen Notfallsanitäter*innen gehen zu den Verletzten, es ist die erste Sichtung: wer ist wie schwer verletzt? Wer braucht sofort Hilfe? Wer kann noch warten? Dem Verletzten mit dem Rohr im Oberschenkel wird schnell das Bein abgebunden, dann weiter geschaut, alles jammert, wimmert, schreit.
Immer mehr Helfer eilen herbei, die ersten Verletzten werden rausgetragen, in Decken, auf Tragen. Draußen werden sie von Rettungsteams behandelt, hier schon nach Farben sortiert: Grün, Gelb, Rot. Rot sind die Schwerstverletzten. Blau und Schwarz gibt es im Ernstfall auch, Schwarz heißt: tot, das gibt es bei der Übung nicht. Auf dem Parkplatz unterhalb der Halle haben die Schnelleinsatzgruppen der DRK-Ortsvereine Göppingen-Schurwald, Geislingen-Oberes Filstal und Hattenhofen-Voralb in beeindruckendem Tempo insgesamt fünf Behandlungszelte aufgebaut. Die Informationen zu allen Patient*innen, jeder hat eine Nummer bekommen, laufen im Einsatzleitwagen des DRK-Ortsvereins Eislingen, direkt neben den Zelten, zusammen. Der Einsatzleitwagen ist für die gesamte „weiße Fraktion“, also für das DRK, die Johanniter-Unfallhilfe und den Malteser-Hilfsdienst, zuständig. Die Rettungskräfte arbeiten sehr gut zusammen, immer mehr Verletzte werden gebracht und im Zelt von den Notärzten und ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helfer*innen versorgt. Und transportfertig gemacht, denn hinter den Zelten warten schon die Rettungs- und Krankenwagen, um die Patient*innen rauf zur Klinik zu bringen. Und auch um die Rettungskräfte wird sich schon vor Ort gekümmert, die Schnelleinsatzgruppe Betreuung des DRK-Ortsvereins Unteres Filstal-Schlierbach hilft nicht nur mit Getränken. Ein echter Großeinsatz für das DRK. Das Rote Kreuz stellt am Einsatzort in der Öde nicht nur das mit Abstand größte Kontingent an Hilfskräften, es ist auch mit den mit Abstand meisten Fahrzeugen bei der Übung dabei. Insgesamt sind 66 Fahrzeuge von Feuerwehr und allen anderen Rettungskräften unterwegs, die Hälfte davon kommt vom DRK-Kreisverband.
Oben in der Klinik angekommen kommen die Verletzten in die Notaufnahme, die schweren Fälle in die drei Schockräume, die Leichtverletzten gehen ins Foyer, dort werden sie versorgt und können die Klinik verlassen. Hier wartet auch Klinikseelsorger Achim Esslinger, er kümmert sich im Ernstfall vor allem um die Angehörigen der Opfer, für die es am Samstag auch Schauspieler gibt, vor der Notaufnahme spielen sich dramatische Szenen ab, das Sicherheitspersonal muss am Ende einige „verzweifelte“ Angehörige zurückdrängen. Auch die Unfallnachsorge des DRK, die Teil der psychosozialen Notfallversorgung ist, ist vor Ort.
Dann ist die Übung vorbei. Bei der Schlussbesprechung sitzen einige etwas erschöpft am Tisch, es war ein langer Tag für alle. „Ein pompöses Szenario“, sei es gewesen, sagt Andreas Aschbacher, Abteilungsleiter Katastrophenschutz im Landratsamt. Die größte Übung seit 10 Jahren ist vorbei, es gibt keine richtigen Verletzten und eine „positive Grundstimmung“. Natürlich habe es hier und da gehakt, das wird jetzt in den nächsten Tagen analysiert, „dafür üben wir“, sagt Übungsleiter Daniel Vogel. Aus Sicht des DRK war es „eine gute Übung“, sagt Raimund Matosic, Kreisbereitschaftsleiter und Leiter der DRK-Schnelleinsatzgruppe Geislingen, der die Übung mitgeplant und begleitet hat. Rund sechs Monate Planung stecken in der „MANV-Übung“. Vom Drehbuch schreiben bis zur Organisation war es ein langer Weg. Neben Raimund Matosic war nur eine Handvoll Mitarbeiter*innen des DRK ins Drehbuch der Übung eingeweiht. 450 Menschen haben bei der Übung mitgemacht, davon 50 Schauspieler und 400 Hilfskräfte. 150 davon in der Klinik. Vom DRK waren 100, von der Feuerwehr rund 40 Retter vor Ort, auch 30 der 50 Schauspieler gehörten zum Roten Kreuz. Klar war den Beteiligten Rettungskräften nur, das eine große Übung stattfindet, das Drehbuch kannte nur ein kleines Team. Und natürlich waren nicht alle Rettungskräfte am Schulzentrum und am Alb-Fils-Klinikum unterwegs. Für die „normale“ Regelversorgung der Bevölkerung war jederzeit gesorgt.
Die Arbeit für das DRK war mit dem Schluss der Übung noch nicht am Ende. Die DRK-Drohnengruppe des Ortsvereins Unteres Filstal-Schlierbach rund um Klaus Schuldes hatte die Übung oben am Klinikstandort begleitet und vor allem die Fahrt- und Laufwege von Fahrzeugen und Helfern gefilmt und dokumentiert. Die Aufnahmen helfen bei der Nachbereitung der Übung, dem DRK und allen anderen Beteiligten auch.