· GZ 2020

Leben retten reine Ehrensache

Jetzt können beide wieder lachen: Karl Wachter und sein Helfer vor Ort Michael Kasper. Dazwischen die Tür, durch die der 84-Jährige gefallen ist. Sie hat inzwischen eine Sicherheitsverglasung erhalten.

Helfer vor Ort sollen die Zeit zwischen Notruf und Eintreffen des Rettungsdienstes überbrücken. Karl Wachter aus Amstetten-Dorf verdankt den ehrenamtlichen Schutzengeln sein Leben.

Da hatte ich nicht nur einen Schutzengel“, sagt Karl Wachter mit tränenerstickter Stimme. Einer der „Schutzengel“ sitzt ihm gegenüber. „Das war Spitz auf Knopf“, bestätigt Michael Kasper. Der 42-jährige Sanitäter war als erster Helfer vor Ort und hat dazu beigetragen, dass Karl Wachter heute die Geschichte seiner dramatischen Rettung überhaupt noch erzählen kann.

Dabei begann der 4. April 2020 ganz undramatisch: Wie jeden Samstag räumte der Rentner nach dem Frühstück die Küche auf und begann, auch im Wohnzimmer klar Schiff zu machen, während Ehefrau Anneliese (79) mit Sohn Thomas zum Einkaufen gefahren war. „Ich wollte gerade das Kabel vom Staubsauger einstecken und hab’ mich mit der Hand abgestützt, da war das Glas schon weg“, erinnert sich der 84-jährige Amstetter. Ob er übers Stromkabel gestolpert war oder einen Schwächeanfall hatte, weiß er nicht mehr. Nur dass er plötzlich kopfüber durch die Glasfüllung der Wohnzimmertüre gestürzt war. „Die Beine waren im Wohnzimmer, der Oberkörper im Flur und auf dem Boden überall Glas.“

Blutfontänen aus dem Arm

Irgendwie gelingt es Wachter, sich aufzurappeln und den Notruf 112 zu wählen. „Ich bin durch eine Glastür gefallen und mir läuft Blut am Kopf runter“, berichtet der Senior dem Diensthabenden der DRK-Rettungsleitstelle in Ulm. Der alarmiert neben dem Rettungswagen parallel auch die Helfer-vor-Ort (HvO) in Amstetten. Michael Kasper, Leiter der HvO-Gruppe, bekommt das Funksignal auf dem Weg zum Baumarkt: „Ich hab gleich umgedreht und bin mit Auto samt Hänger los.“ Fünf Minuten später kommt Kasper bei Wachters an. An der Haustür wird er vom Sohn, mit der Mutter gerade vom Einkaufen zurück, empfangen: „Schnell, mein Vater verblutet“, ruft er dem Retter verzweifelt entgegen.

Im Haus stellt sich die vermeintliche Platzwunde als lebensbedrohliche Verletzung heraus. Neben der kleineren Wunde am Kopf spritzt das Blut in kleinen Fontänen aus dem Arm des Rentners: Eine 20 Zentimeter große Glasscherbe hat Wachters Unterarm regelrecht zerfetzt und dabei auch eine Arterie durchtrennt. Das hat der 84-Jährige erst nach dem Notruf entdeckt. Hemd und Wollpullover hielten das Blut offenbar zunächst noch zurück - „aber dann ist’s gelaufen wie a Brünnele“, erinnert sich Wachter. Auch dass er sich noch in die Küche geschleppt hat und den verletzten Arm übers Spülbecken hielt („damit es keine Sauerei gab“), weiß er noch. Dann schwinden ihm die Sinne.

Als Sohn und Retter den Verletzten in der Küche finden, ist er schon so geschwächt, dass ein Kreislaufkollaps droht, Wachter verliert das Bewusstsein. Mit einem Druckverband stoppt Kasper die Blutung, in Schocklage kommt der alte Mann wieder zu sich. Kasper hat inzwischen Rettungshubschrauber und Notarzt angefordert. Die treffen noch vor dem Rettungswagen ein. Nachdem der Notarzt den Verletzten mit Infusionen stabilisiert hat, wird Wachter zusammen mit dem Notarzt im Rettungswagen ins Bundeswehrkrankenhaus nach Ulm gebracht. Den wegen der Luftdruckunterschiede belastenden Flug im Rettungshubschrauber will der Arzt dem Patienten angesichts des unsicheren Zustandes nicht zumuten. Da man zudem nicht weiß, ob hinter dem Sturz nicht doch möglicherweise ein Herzinfarkt oder Schlaganfall steckt, erscheint den Verantwortlichen eine für alle Fälle ausgerüstete Trauma-Klinik sicherer als der Transport nach Geislingen oder Göppingen.

„Fünf Minuten länger und es wäre zu spät gewesen“, konstatiert der Retter. Dabei hatte sein Schützling doppeltes Glück: „Mit Corona haben viele Helfer-Gruppen im Land die Arbeit eingestellt“, erläutert Kasper. Als der DRK-Kreisverband Ulm im März eine Umfrage unter den 18 Helfer-Gruppen startete, erklären sich die Amstetter Helfer bereit, das System trotz der Sicherheitsrisiken für die eigene Gesundheit weiter aufrecht zu erhalten.

Seit Januar schon 153 Einsätze

Das hat Wachter das Leben gerettet. Und nicht nur dem 84-Jährigen. Seit Januar sind die Amstetter Ersthelfer bereits zu 153 Einsätzen gerufen worden. Im Vorjahr waren es 311. Nicht immer geht es um Leben und Tod, aber „sechs Mal haben wir auf jeden Fall ein Leben retten können“, weiß Kasper. Der Sicherheitsingenieur und ausgebildete Rettungshelfer fing 2004 zunächst als Alleinkämpfer in Amstetten an. Unterstützt von Ehefrau Verena kamen nach und nach immer mehr Helfer dazu. 2017 wurde die HvO-Gruppe Amstetten unter dem Dach des DRK Geislingen offiziell gegründet. Heute hat die Gruppe elf Mitglieder, fünf Aktive und sechs in Ausbildung.

Helfer vor Ort brauchen eine spezielle Ausbildung, die um einiges über den üblichen Erste-Hilfe-Kurs hinausgeht (siehe Info). Das kostet nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Schließlich ist es mit der Ausbildung nicht getan: „Allein die Ausrüstung mit Einsatzkleidung, Notfallrucksack und Funkmeldeempfänger kostet 2500 bis 3000 Euro“, erläutert Kasper. Kommt noch ein Defibrillator dazu, werden weitere 1200 Euro fällig. Dafür gibt es keine Zuschüsse: „Wir müssen jede Mullbinde selbst verdienen“, versichert der HvO-Leiter. Für ihre Einsätze bekommen die ehrenamtlichen Ersthelfer ebenfalls keinen Cent Entschädigung. „Wir sind voll auf Spenden angewiesen“, betont Kasper. Zumindest in Amstetten scheint das gut zu klappen. „Wir kommen hin“, freut sich der HvO-Chef über die breite Unterstützung aus der Bevölkerung und den örtlichen Firmen.

Auch die Wachters haben gespendet. Dabei wissen sie, dass die Hilfe der Helfer vor Ort eigentlich unbezahlbar ist. Michael Kasper wiederum hofft, dass sein Einsatz dazu beigetragen hat, dass die Wachters nach der Diamantenen Hochzeit 2018 in drei Jahren auch noch ihre „Eiserne“ für 65 gemeinsame Jahre feiern können.

Info Das Rettungsdienstgesetz für Baden-Württemberg schreibt vor, dass Rettungskräfte spätestens 15 Minuten nach dem Alarm am Einsatzort sein müssen. Vor allem im ländlichen Raum ist es oft schwierig, diese Frist einzuhalten. Speziell geschulte ehrenamtliche Sanitäter sollen als „Helfer vor Ort“ mit ersten Maßnahmen dazu beitragen, diese im Notfall lebensbedrohliche Versorgungslücke bis zum Eintreffen des Notarztes zu überbrücken.

Der Weg zum Helfer vor Ort

Ausbildung Ersthelfer vor Ort müssen zumindest eine Ausbildung zum Sanitätshelfer vorweisen können. Das Rote Kreuz bietet dazu einen Grundkurs über vier Tage und eine anschließende 78 Unterrichtseinheiten umfassende Fachausbildung zum Sanitätsdienst an, die mit einer Prüfung abgeschlossen wird. Danach müssen die Helfer regelmäßige Fortbildungen nachweisen.

Nachwuchs „Wir sind für jedes neue Mitglied dankbar“, betont Gruppenleiter Michael Kasper. Wer sich für den ehrenamtlichen Dienst als Helfer vor Ort interessiert kann sich unter anderem beim DRK in Geislingen (www.drk-geislingen.de) informieren oder direkt an die HvO-Gruppe in Amstetten (drk-amstetten(at)gmx(dot)de) wenden.