Samstagmorgen, Schulzentrum an der Öde: Feuerwehrautos und Rettungswagen rasen dutzendweise die Christian-Grüninger-Straße hinauf. Was ist passiert? Edgar Wolff hat angerufen. Nicht als Landrat, als „Lehrer“. So will es das Drehbuch für die große Übung am Samstag, die „Man-V-Übung“, die alle Rettungsorganisationen im Landkreis und das Alb-Fils-Klinikum den ganzen Tag auf Trab hielt.
„Man-V“, das heißt im Amtsdeutsch „Massenanfall von Verletzten“, und der Umgang mit so einem Szenario will gelernt sein. Ganz am Anfang steht im Drehbuch, das ein „Lehrer“ des Schulzentrums aufgeregt den Notruf wählt und kurz erklärt, was passiert ist: Beim Aufbau eines Licht- und Tongerüsts in der Turnhalle ist das Gerüst eingestürzt, es gibt viele Verletzte, „ich schätze so 50“, sagt Wolff, „davon vielleicht zehn Schwerverletzte“, sagt er auf Nachfrage aus der Leitstelle. Wenn die solche Zahlen hört, gibt es einiges zu tun. Und einen Plan, den „Alarm- und Einsatzplan zur Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten und Erkrankten im Landkreis Göppingen“. Die aktuelle Version wurde am Samstag geübt. Die Leitstelle alarmiert daraufhin praktisch alle Einheiten des Katastrophenschutzes im Landkreis: Deutsches Rotes Kreuz, Malteser-Hilfsdienst, Johanniter-Unfallhilfe, das Technische Hilfswerk und natürlich die Feuerwehr. Die ist - neben einem Notarztauto - auch als erste am Unfallort, ein paar Minuten nach dem Anruf von „Lehrer“ Wolff.
Filmreife Arbeit
Was die Helfer vor Ort erwartet, nimmt alle mit, auch die, die nur zugucken. Schon vor dem Eingang zur Turnhalle sitzt ein Verletzter und keucht apathisch. Im Foyer liegen mehrere Verletzte, im Flur dahinter auch, viele jammern und schreien, manche geben keinen Ton von sich. Sie haben es nach einer Massenpanik in der Turnhalle irgendwie noch aus der Halle geschafft, sind aber zum Teil übel zugerichtet. In der Halle dann ein - Gott sei Dank nur gut nachgestelltes - Bild des Grauens: Unter und vor den Gerüsttrümmern überall Verletzte, eine Frau mit großer Scherbe im Hals, ein Mann mit einem Stahlrohr im Oberschenkel, einer anderer hat ein Stück Stahl im Bauch. Überall Erbrochenes, verzweifelte Schreie nach Hilfe. Das Schminkteam und die Schauspieltruppe legen filmreife Arbeit aufs Turnhallenparkett.
Der Notarzt und die ersten eingetroffenen Sanitäter gehen zu den Verletzten, es ist die erste Sichtung: Wer ist wie schwer verletzt, wer braucht sofort Hilfe und wer kann noch warten? Dem Verletzten mit dem Rohr im Oberschenkel wird schnell das Bein abgebunden, dann weiter geschaut. Alles jammert, wimmert, schreit.
„Ein pompöses Szenario“
Immer mehr Helfer eilen herbei, die ersten Verletzten werden rausgetragen, in Decken, auf Tragen. Draußen werden sie von Rettungsteams behandelt, hier schon nach Farben sortiert: grün, gelb, rot. Rot sind die Schwerverletzten. Blau und schwarz gibt es Ernstfall auch, schwarz heißt: tot, das gibt es am Samstag nicht. Auf dem Parkplatz unterhalb der Halle haben Rotes Kreuz und Malteser Zelte aufgebaut, hier werden die Patienten weiter versorgt und für den Transport mit den Rettungswagen, die schon bereitstehen, fertiggemacht. Dann geht es zur Klinik. Oben angekommen kommen die Verletzten in die Notaufnahme, die schweren Fälle in die drei Schockräume, die Leichtverletzten gehen ins Foyer, dort werden sie versorgt und können die Klinik verlassen.
Dann ist es vorbei. Bei der Schlussbesprechung sitzen die meisten etwas erschöpft am Tisch, es war ein langer Tag für alle. „Ein pompöses Szenario“, sei es gewesen, sagt Andreas Aschbacher, Abteilungsleiter Katastrophenschutz im Landratsamt. Die größte Übung seit zehn Jahren ist vorbei, es gibt keine echten Verletzten und eine „positive Grundstimmung“.
Natürlich habe es bei der Aktion hier und da gehakt, das wird jetzt in den nächsten Tagen ausführlich analysiert – denn „dafür üben wir“, sagt Übungsleiter Daniel Vogel.
Vom eingestürzten Gerüst bis in die Notaufnahme
Anfänge: Rund sechs Monate Planung stecken in der „Man-V-Übung“. Vom Drehbuch schreiben bis zur Organisation war es ein langer Weg. Großübungen hören oft dann auf, wenn die Verletzten fertig sind für den Transport. Nicht so am Samstag, da ging es für alle Verletzten hoch in die Klinik, die „schweren Fälle“ landeten im OP. Alle Kliniker - von der Geschäftsführung bis zum Pflegepersonal – waren mit Verve dabei. Warum? Notaufnahme-Leiterin und Chefärztin Dr. Katja Mutter bringt es auf den Punkt: „Wir brauchen das, das ist so wichtig“, und viel besser als alle Planspiele am Tisch.
Zahlen 450 Menschen haben bei der Übung mitgemacht, davon 50 Schauspieler und 400 Hilfskräfte. 150 davon in der Klinik. Vom DRK waren 100, von der Feuerwehr rund 40 Retter vor Ort. Klar war den beteiligten Rettungskräften nur, dass am Samstag eine große Übung ist, das Drehbuch kannte nur ein kleines Team. Und ja, natürlich waren nicht alle Rettungskräfte an der Öde unterwegs, hatte der Landkreis Göppingen schon im Vorfeld betont. Für die „Regelversorgung“ der Bevölkerung war gesorgt.